Lisl

eine Geschichte zum Einschlafen und Träumen...

„Weißt du was ein echter König und eine echte Königin ist?“ fragte Lisl ihre Puppe Nümli. Energisch schüttelte die Puppe ihren Kopf und blickte mit großen neugierigen Augen zu Lisl empor. „Also gut, ich erzähl dir eine Geschichte“ sagte Lisl gutmütig und ein wenig erhaben, setzte sich auf und, wer Lisl kannte, konnte sehen wie sie innerlich die Reise in ihre Phantasiewelt, oder wo auch immer sie hinreiste, angetreten war.

Mit träumerischen Augen zwirbelte Nümli ihren linken Zopf, der fröhlich hin und her schaukelte, und eine gute Freundschaft zum roten Haarband zu pflegen schien.

Lisl schürzte ihre Lippen und begann zu erzählen: „ Einst, vor langer Zeit, da lebte ein langweiliger Kaiser namens Wilhelm.“

Nümli kicherte, woraufhin Lisl ihr einen strengen Blick zuwarf und erklärte: „Alle langweiligen Kaiser und Könige hießen Wilhelm oder Franz.“ Nümli kullerte auf ihren Bauch, wippte mit ihren Zehen und blickte erneut mit großen, lauschenden Augen zu Lisl auf.

„Wilhelm also,“ seufzte das Mädchen, liebevoll und verständnisvoll Nümli betrachtend, „war ein langweiliger und kluger Mann. Er hatte schöne Gärten und eine Frau. Sein Bruder hatte viele Gärten und viele Frauen. Aber Wilhelms Frau war schöner, deshalb brauchte er nur eine.

Ich glaube, deshalb auch, hatte er einen netten Sohn. Der war auch schön. Er hatte blonde krause Löckchen, und große blaue Augen. So wie es sich für einen Prinzen gehört. Er sah ganz goldig aus. Sein Vater mit der Regierung, aber sein Herz war weich und weit…“  „Und warum war er dann langweilig?“ fragte Nümli verständnislos. „Weil er alles richtig machte, und so machte, wie seine Eltern es schon gemacht hatten, und wie das Land es von ihm erwartete. Das ist doch langweilig. Darum war ihm auch manchmal langweilig, aber er fühlte sich zu doll verantwortlich für das alles. Also für sein Land, und seine Familie, und seine Mitarbeiter – die hießen früher auch anders. Heute sind es sozusagen die Firmenmitglieder.

 

Und als der Sohn älter wurde, und der Vater alt war, und seine Zeit gekommen war Abschied zu nehmen und einen Rückblick auf sein Leben zu nehmen, sprach Kaiser Wilhelm zu seinem Sohn: “Mein lieber Sohn, meine Zeit ist gekommen, ich verlasse diese Erde und werde sobald nicht wieder kommen. Eine Reise erwartet mic

h die mir neu ist, und vor der ich mich auch etwas fürchte. Ich übergebe dir das Familienzepter und damit alle freie Entscheidungsgewalt über dieses Königreich. Tu, was du für richtig empfindest und folge deinem Herzen, dem Klang, der Melodie die dich dein Leben lang begleiten wird. Und so deine Zeit gekommen ist, werde ich dich mit offenen Armen auf der anderen Seite des Flusses in Empfang nehmen.“

Tja, und dann starb der liebe Wilhelm. Sein Sohn war auch zuerst ganz traurig. Aber das war nicht so schlimm, weil sein Vater ihm ja gesagt hat, dass er einfach glücklich sein soll und, dass er ihn später wieder sehen wird. Und so ging er auf den üblichen Balkon, auf dem der König, oder der Präsident, oder wer so grade denkt, er sei wichtig, steht, und sprach zu seinem Volk: „Liebe Menschen, mein Vater ist gestorben. Ich möchte nicht mein Leben lang so viel Verantwortung tragen, wie mein Vater es tat. Ich habe nur eine Bitte und Wunsch an euch: Lebt glücklich und in Frieden miteinander.“

Und seine Worte hatten so eine Kraft, dass die Menschen sich zu Gemeinschaften zusammen schlossen, und friedlich miteinander ihr Leben neu und in Fülle gestalteten.

Der Prinz hingegen zog in die Welt und folgte der Melodie seines Herzens. Überall wo er war, fühlte er sich zu Hause. Und überall wirkte er in Situationen durch seine liebende Art auf zusammenführende Weise.

Er war kein König, der vom Balkon oben sagte, was zu tun sei. Er war ein König, den du nicht als König erkanntest, der nicht laut war, der nur durch sein Herz dein Herz berührte und so Weichheit und Gedeihen in den Herzen der Menschen in Erinnerung rief und

dort säte wo es noch nicht vorhanden war.

Auch seine Frau sprach die gleiche Sprache. Und so war es ein Königreich des Miteinanders, der Wahrheit und der Liebe.“

Nümli blickte schlaftrunken zu Lisl auf, zwinkerte mit den Augen, seufzte: „Schöööön“, legte ihren Kopf zur Seite und schlief selig ein.

 

Lisl nahm ihre Puppe auf den Arm, wiegte sie ein Weilchen und legte sie dann behutsam in ihr kleines, hellblaues Bettchen. Dann stieg sie selber in ihr Himmelbett, zählte die funkelnden Papiersternchen an der Decke, die auf sie herableuchteten und schlief leise und friedlich ein.